Innovative enhanced eBooks: Dynamisches Storytelling

Spätestens seitdem Apple 2012 mit iBooks Author ein Gestaltungswerkzeug für Multimedia-Produkte auf den Markt gebracht hat, sind enhanced eBooks als Medienform in aller Munde. Zu recht, denn das Potenzial zur Erweiterung des eBook in gestalterischer, didaktischer und inhaltlicher Hinsicht ist enorm – und wie so oft in der Sandkasten-Phase eines Mediums müssen Möglichkeiten und Grenzen erst ausgetestet werden, um die sinnvolle Mitte zwischen Aufwand und Nutzen zu finden. Eine spannende Phase in der Entwicklung des digitalen Marktes also. Grund genug für einen kleinen technischen Blick unter die Haube anhand aktueller Beispiele:

Waren zu Beginn der Diskussion über enhanced eBook noch Schul- und Lehrbücher im Fokus, wie z.B. der spektakuläre iBooks Author-Showcase „Life on Earth“, werden nun zunehmend auch belletristische Inhalte umgesetzt.

Emily Short: First draft of the revolution

Mit „First draft of the revolution“ wird das Genre des historischen Briefromans aufgenommen und in ein enhanced eBook übersetzt. Die Handlung spielt zur Zeit der französischen Revolution und wird über den Briefverkehr eines Adligen und seiner Frau entwickelt. Als Besonderheit gegenüber einem rein linearen Story-Verlauf hat der Leser jedoch an vielen Stellen die Möglichkeit einzugreifen und die Briefe des Ehepaars quasi „umzuschreiben“. Je nach Entscheidung des Lesers nimmt die Geschichte dann im folgenden andere Wendungen bzw. ein recht unterschiedliches Ende – das Verfahren ist vielleicht dem einen oder anderen noch aus den Fantasy-Rollenspiel-Büchern bekannt, die in den 80er Jahren populär waren.

Die Beeinflussung der Handlung in „First draft of the revolution“

„First draft of the revolution“ ist auf der technischen Ebene als EPUB3-Datei umgesetzt und macht sich dabei insbesondere die Tatsache zu Nutze, dass unter EPUB3 durch Einbettung von Javascript-Funktionen in den HTML5-Content dynamische Komponenten hinzu gefügt werden können. Eine speziell dafür entwickelte Javascript-Bibliothek übernimmt die Verwaltung der dazu notwendigen Fallunterscheidungs-Bäume, die Generierung der Dialoge für die Auswahlmöglichkeiten und das Speichern der Entscheidungen für den weiteren Handlungsverlauf. Der Titel ist als kostenloser Download verfügbar und kann sowohl als EPUB3 unter iBooks, als Mobipocket/KF8-Datei für Kindle, wie auch in einer Browser-basierten Variante für Firefox, Chrome und Safari genutzt werden. Die Datei wird DRM-frei ausgeliefert und erlaubt interessierten Entwicklern so das Studium des Quellcodes.

Der Titel ist jedoch nicht als singuläres Experiment entstanden, sondern dient vor allem als Showcase für die Autoren-Umgebung „Inklewriter“ des britischen Startups Inkle. Die Browser-basierte Anwendung ist zur Zeit als kostenlos nutzbare Beta-Version verfügbar und erlaubt das Anlegen und Editieren von Content für interaktive Produkte dieser Art, inklusive visuellem Designer für die Fallunterscheidungen und Handlungsverläufe. Neben der Verwendung für dynamisches Storytelling ist Inklewriter auch für die Konzeption von didaktischen Produkten und Lern-Content gedacht.

Die Autorenumgebung Inklewriter

Im momentanen Implementierungszustand erlaubt die Umgebung standardmäßig die Erzeugung von Web-Anwendungen auf Basis des Inklewriter-Content. Für die Konvertierung nach Mobipocket/KF8 für den Amazon Kindle muss eine (niedrige) Handling-Gebühr an Inkle bezahlt werden. Die Javascript-Anteile werden dabei regelbasiert in Verlinkung und entsprechende Content-Aufteilung umgesetzt, damit die resultierende eBook-Datei kompatibel zu den alten Kindle-Readern bleibt. Ein EPUB3-Export ist momentan noch nicht direkt integriert – Dateien in diesem Format können aber von Content-Entwicklern auf Basis der Inklewriter-Bibliotheken relativ einfach erzeugt werden.

Der nächste Schritt: die Versu-App

In Versu spielt der Leser verschiedene mögliche Rollen innerhalb einer Geschichte.

Auf Basis eines sehr ähnlichen Prinzips (und z.T. mit denselben Autoren als Content-Lieferanten) hat Linden Labs, das Unternehmen hinter Second Life, die nächste „Ausbaustufe“ für dynamisches Storytelling realisiert. Mit der iOS-App Versu wird das Konzept hinter Inklewriter um beliebige Mengen an hinterlegbaren Entscheidungen, ein Kategorien-System für Entscheidungstypen, verschiedene Akteure sowie eine KI-Engine ergänzt. Bei entsprechend aufbereitetem Content erlaubt das System dem Leser, wahlweise in verschiedene Rollen einer Geschichte zu schlüpfen. Die anderen Akteure in der Story agieren dabei wie in einer Roleplay-Engine halbintelligent. Neben der Beeinflussung der Handlung treten dazu „Aufgaben“ oder „Ziele“, die erfüllt werden müssen – ein weitere Schritt hin zur Gamification der hinterlegten Inhalte. Im Grunde überträgt Versu mit diesem Prinzip die Idee der textbasierten Adventures aus dem Rollenspiel-Bereich in die Welt der Mobile Apps. Wer sich das Konzept einmal ansehen will: Die Basis-App für iOS ist kostenlos und bringt eine erste Geschichte mit, die gleichzeitig als Tutorial für das Prinzip der App dient; eine Bibliothek weiterer Geschichten wird als In-App-Purchase angeboten.

Auswahl der Handlungsmöglichkeiten in Versu

Von der relativ einfachen Hinterlegung von Fallunterscheidungen mit den Mitteln von EPUB3 bis hin zu komplexen, KI-basierten App-Modellen wird hier also momentan mit verschiedenen Konzepten experimentiert, Geschichten interaktiver und dynamischer zu erzählen als mit einem linearen Handlungsverlauf denkbar. Ob sich aus diesen Ansätzen mehr entwickelt als ein Experiment mit neuen Medien, oder hier eine Brücke für den Übergang ins Transmedia Storytelling geschaffen wird – das wird wohl am Ende der kommerzielle Erfolg der Produkte und ihrer Hersteller zeigen müssen.

Spannend bleibt für innovative Content-Anbieter aber allemal, dass mit Javascript in EPUB3 hier eine Möglichkeit zur Verfügung steht, dynamisches Storytelling auch ohne aufwändige App-Entwicklung realisieren zu können. Nun müsste sich nur noch Amazon dazu entschliessen, auch im KF8-Format die Javascript-Einbettung zu gestatten – und der Vertrieb solcher Produkte wäre auch Plattform-übergreifend möglich…

 

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Danke für die super Tipps, Fabian! Habe sofort angefangen, mit Inklewriter rumzuspielen und bin recht angetan, Versu kommt dann als nächstes dran – klingt nämlich so, als könnte ich das demnächst sehr gut brauchen…

  2. Pingback: Nonlineare Zukunft der Belletristik? Eine Reflexion über verschenkte Möglichkeiten : πάντα ῥεῖ – Alles fließt.

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